Einführung
von Gerda Fiedler
Die Geschichten dieses Buches sind den Menschen zugedacht, die mit ihren
Gedanken und Träumen am liebsten über dieses Leben hinausdringen,
um verborgene Wahrheiten in anderen Ebenen aufzudecken. Der sie mir erzählt
hat, kommt abends zur gewohnten Stunde zu mir, um mit mir über die
tausend Fragen zu sprechen, die einen kleinen Menschen bewegen. Und wenn
er viel Zeit hat, wird es auch mal eine Gute-Nacht-Geschichte.
Man
merkt es diesen Geschichten an, daß sie aus einem anderen Blickwinkel
kommen: Der Erzähler überquert so selbstverständlich
die Grenzen von Himmel und Erde, er kennt die Gesetzmäßigkeiten
sichtbarer und unsichtbarer Welten und die Gewohnheiten ihrer Bewohner.
So weiß er auch Einzelheiten vom Urbeginn aller Zeiten und vom
Geheimnis der ewigen Pforte, und er ist überzeugt, daß Schöpfergeister
ebenso mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen haben wie Menschenkinder
– wenn auch auf andere Art. Allerdings
sieht er die Schwierigkeiten eines Menschen meistens in Verbindung mit
dem Woher und Wohin seines „großen“ Lebensweges. Das
liegt daran, daß mein Erzähler alles von „oben“
sieht. Er ist doch ein Engel.
Es
schadet dem Wahrheitsgehalt der Geschichten nicht, wenn sie in märchenhafter
Weise gestaltet sind oder auf den ersten Blick so aussehen, als wären
sie für Kinderohren bestimmt. Das Unantastbare, das Grundsätzliche
im ewigen Auf und Ab des Seins kann man in mancherlei Gewänder
kleiden. Und wenn sich mein Märchenengel für diese Form entschlossen
hat, dann sicher aus gutem Grund. Menschen von heute tun sich noch schwer,
wenn sie die Wirklichkeit einer Welt erfahren wollen, die nicht nach
heutigen Grundsätzen meßbar ist. Doch weiß man, daß
sich auch manches Kinderherz hinter einem glänzenden Verstand verbirgt
und mit anderen Maßstäben begreifen will.
Und
so haben wir eines Tages beschlossen – mein hoher Freund und ich
– die schönsten Geschichten aufzuschreiben und anderen in
die Hand zu geben. Beim Aufschreiben stand mir mein Engel oft zur Seite,
und ich habe den Eindruck, er war – ebenso wie ich – mit
echter Freude bei der Sache.
Dieselbe
Freude wünsche ich auch Ihnen beim Lesen.
Inhalt
I. Von Schöpfern und Engeln im himmlischen Tun
Der Urgeist und die Zeit
Als der kleine Stern zum großen Schöpfervater fuhr
Der Knoten
Die Sonnenfamilie
Als uns der Urengel besuchte
Wem die Letzte Posaune bläst
Der achte Tag
II. Von des Menschen beschwerlichem Weg zum Himmelreich
Der Spielmann
Die Fahrt ins schwarze Loch
Die eine Pforte
Von einem, der auf schnellstem Wege wiederkam
Der Sonnensucher
Sternguckers Reise
Leseprobe
Der Sonnensucher
Es war einmal ein Mann, der lebte in einer Gegend am Ende der Welt,
in der es immer so dunkel war wie in einem Polarwinter. Der Mann liebte
seine Heimat, denn er hatte nie eine andere kennengelernt.
In den Weiten der ewigen Nacht – mit den schönen schimmernden
Schneefeldern – konnte man Tiere jagen und gemütliche Hütten
bauen, wo man eng beieinander saß. Am Himmel blitzten geheimnisvolle
farbige Lichter auf, und manchmal fuhren Sternschnuppen wie silberne
Pfeile über sie dahin.
Die Menschen, mit denen er hier lebte, mußten vieles entbehren,
so wie er auch. Aber sie kannten es ja nicht besser.
Von Zeit zu Zeit erschien fern am Horizont ein großes, rundes,
goldenes Licht. Das sah ganz anders aus als alle Lichter, die sonst
in ihrer Winternacht am Himmel erschienen. Einige der alten Hüttenbewohner
wußten: Das ist die Sonne! Sie strahlt in einem weit entfernten
anderen Land und hüllt dort alles ein mit ihrem Licht und ihrer
Wärme. Und wirklich: Das unbekannte goldene Himmelslicht schaute
immer nur für ein kleines Weilchen über den fernen Horizont
– dann verschwand es schon wieder, und man konnte nur noch von
ihm träumen.
Eines Tages zog der Mann wieder einmal zur Jagd hinaus in die Schneefelder
der geheimnisvollen ewigen Nacht, um Nahrung und warme Felle zu erbeuten.
Da geschah etwas Eigentümliches. Er sah, wie er ganz unbeabsichtigt
immer weiter dem fernen Horizont zustrebte, es zog ihn auf unerklärliche
Weise zu der Stelle hin, wo ab und zu die Sonne hervorblickte. Und seltsam
– je weiter er sich dieser fremden Gegend näherte, um so
heller leuchtete der Horizont, und um so länger ließ sich
die fremde Sonne blicken, wenn sie ihre gewohnte Reise dicht über
den fernen Hügeln antrat.
Tagelang mußte der Mann schon gelaufen sein. Die Dunkelheit rings
um ihn herum wurde immer durchsichtiger, schon konnte er die ersten
Konturen seines Weges erkennen. Und je deutlicher seine Augen wahrnehmen
konnten, um so stärker wurde seine Sehnsucht nach dem Sonnenland.
Da beschloß der Mann, nicht mehr rückwärts zu schauen.
Er wollte seine ganze Kraft einsetzen, um den mühevollen Weg in
das unbekannte Land zu schaffen.
Er brauchte eine unendlich lange Zeit. Es schien ihm, als hätte
er sein halbes Leben damit zugebracht – aber die Mühe war
es wert! Endlich war er über den letzten hohen Berg geklettert.
Und da stand er mit aufgerissenen Augen und blickte in das Land, das
Tag und Nacht gleichermaßen offenbarte – so, als wollte
es gerechterweise die unterschiedlichen Verhältnisse von Hell und
Dunkel vorführen. Auf daß sie jedermann sehen und sich entscheiden
konnte.
Unser Jäger aus der dunklen Heimat hatte sein großes Staunen
bald überwunden und begann zu erkunden, was das Sonnenlicht offenbar
werden ließ. Glasklar lagen die Dinge da – offen für
alle Welt. Nirgends gab es geheimnisvolle Schleier. Er brauchte nur
richtig hinzuschauen und zu begreifen, was da großzügig angeboten
wurde: schöne Wohnstätten, wie er sie niemals zuvor gesehen
hatte, große Brunnen, die nie versiegten und allen Durst stillten,
und reiche Fundgruben mit tausendfach verschiedenen Schätzen angefüllt.
Aber auch unvermutete Schwierigkeiten gab es hierzulande. Wer sich einen
der Schätze aneignete, übernahm damit auch die Verantwortung,
ihn weise zu gebrauchen. Indem er seinen Gehalt erkannt hatte, mußte
der glückliche Besitzer auch dafür sorgen, daß andere
auf rechte Weise daran teilhaben konnten. Das war – auch wenn
man es gern wollte – manchmal nicht so einfach.
Oft dachte der Mann zurück an sein Leben in der immerwährenden
Nacht; denn er hatte dieser Erinnerung einen kleinen Platz in seinem
Herzen eingerichtet. Manches war dortzulande auch einfacher und weniger
anstrengend gewesen.
Wie auch immer – an ein Sonnenleben gewöhnt man sich wie
von selbst, sozusagen aus heiterem Himmel. Und eines Tages gehört
es zu einem selbst. Mit der Gewöhnung wächst die Liebe zu
jedem Strahl dieser herrlichen guten Sonne, die hoch oben am Himmel
ihre Bahnen zieht und alles im Land in Bewegung hält.
Der Jäger aus dem fremden Land strengte sich nach Kräften
an, um die kostbaren Stunden zu nutzen, die ihm jeder Tag schenkte.
Schließlich war sein Rucksack randvoll gefüllt: mit edlen
Perlen und Erinnerungen – mit wertvollen Mosaiken und Erkenntnissen
in mannigfachen Gestaltungen, die ein Bild gaben von den hier entdeckten
Reichtümern. Dann machte er sich auf den Weg in die dunklen Weiten
am Ende der Welt.
Er wollte die Freunde seiner alten Heimat besuchen und ihnen ein bißchen
Glanz in ihre dunklen Behausungen bringen. Ihr eintöniges, hartes
Leben, in dem es so wenig Freude gab, sollte ein bißchen heller
werden. Und er wollte alle, die es wünschten, in das Land unter
der Sonne führen.
Denn er wußte jetzt: Im Land der Sonne zu leben – das muß
eine verborgene Sehnsucht in den Herzen aller Menschen sein. Wer diese
Sehnsucht eines Tages entdeckt, kann nimmermehr ruhen. Er muß
dieses Land so lange suchen, bis er es findet und weiß, daß
er dort zu Hause ist.
Signatur
der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig - Frankfurt a. M. - Berlin:
2001 A 3970
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