Einführung
von Gerda Fiedler
In
zehn gleichnishaften Geschichten und erläuternden Texten zum jeweiligen
Thema gibt dieses Büchlein Hinweise zum „seelisch-geistigen
Entwicklungssoll“ des Menschen.
Überall
da, wo geistiges Leben existiert, sucht dieser Geist nach Vervollkommnung
seiner ihm innewohnenden Eigenschaften und Kräfte. Immerhin hat
der dem Menschen eigene Geist dafür eine kleine Ewigkeit Zeit.
Aber jedes einzelne Menschenleben ist ja ein kostbarer Abschnitt dieser
Ewigkeit und kann sinnvoll genutzt werden.
In
den Ebenen seines Inneren Weges wird jedem die Verantwortung für
das eigene Wachsen und Werden zugemessen, indem er sich seinen Möglichkeiten
gemäß um eine stufenweise Verbesserung seines inneren Wertbestandes
bemüht und Erfahrungen macht mit grundlegenden Zielsetzungen, die
ja über die Grenzen eines Menschenlebens hinausreichen. Denn dieser
Innere Weg ist ein Stückchen Welt, das in die immerwährenden
Ordnungen Gottes hineinreicht.
Die
einzelnen Kapitel dieses kleinen Lehrbuchs sind in der Begegnung mit
meinem himmlischen Mentor niedergeschrieben worden.
Inhalt
1. GESETZ DER WIEDERGEBURT
Unser kleiner Wald
Die immer-wiederkehrende Seele
2. FREIHEIT DES WILLENS
Die Krone der Schöpfung
Gebrauch des freien Willens
3. VOM SINN DER REIBUNG
Als sich Wasser und Feuer begegneten
Im Für und Wider der Gegensätze
4. VOM RECHTEN AUSGLEICH
Vom Bächlein, das seinen Ausgleich suchte
Ausgewogenheit der Kräfte
5. DAS GEWISSEN ALS WEGHELFER
Solange es nur heftig nagt
Was ist ein Gewissen
6. VOM WERT DES BEMÜHENS
Das eigentliche Soll
Eine himmlische Eigenschaft
7. STUFUNGEN DER LIEBE
Der Korb
Die verschiedenen Gesichter der Liebe
8. VOM SINN DER EINDEUTIGKEIT
Wer sein Heil auf zwei Wegen sucht
Eindeutigkeit - als Haltung des Geistes
Eindeutigkeit - im menschlichen Leben
Eindeutigkeit - in der Welt der inneren Suche
9. VOM RECHTEN WACHSEN UND WERDEN
Zwei Bäumchen wachsen im selben Grund
Leben wider den Geist
10. VON DER ICHVERHAFTUNG ZUM AUSSERPERSÖNLICHEN FÜHLEN UND DENKEN
Als der Käfer fliegen lernte
Sich selbst überwinden, um sein anderes Selbst zu finden
Leseprobe
1. GESETZ DER WIEDERGEBURT
Unser kleiner Wald
Diese Geschichte erzählt von einem kleinen Wald vor den Toren unserer
Stadt. Er wird von den Vögeln und Eichhörnchen, die in seinen
Bäumen wohnen, ebenso geliebt wie von den Menschen, die auf seinen
schattigen Wegen Erholung suchen.
Unser Wald ist im großen und ganzen ein Laubwald, der sein wunderschönes
Gewand jedes Jahr von neuem entfaltet. Seine Bäume haben verschiedene
Namen, sie bilden spitze und breite Kronen, knorrige und schlanke Äste
und zeigen sich in ganz verschiedenartig geformten Blätterkleidern.
An einer Stelle gibt es ein undurchdringliches Dickicht, in dem seltene
Vögel brüten, an anderen Stellen machen die Bäume Platz
für kleine runde Wiesen mit vielen Blumen und Schmetterlingen.
Er hat schon sein eigenes Gesicht, dieser Wald – so lieblich und
zugleich majestätisch wie er sich gibt in seiner eigenwilligen
Gestalt. Und insofern unterscheidet er sich auch von den anderen Wäldern
in den Nachbargebieten. Aber in einem Punkt gleicht er allen Wäldern
der Welt: Er unterliegt dem großen Gesetz der Wiedergeburt.
Im ständigen Kreislauf von Werden und Vergehen wächst er allmählich
heran. Sein Wachstum ist ein kontinuierlicher Prozeß – von
dem wir allerdings nur die äußerlich sichtbaren Intervalle
miterleben; die Phasen der inneren Wandlung macht er mit sich selber
ab.
Im Vorfrühling, wenn die Sonne höher steigt und sich unseres
kleinen Waldes annimmt, erwacht er aufs Neue zum Leben. Während
noch der letzte Schnee von den mächtigen Kronen tropft, beginnt
er leise zu atmen. Vorsichtig heben sich die schweren Äste und
halten Millionen winzig kleine, verklebte Knospen in das wärmende
Sonnenlicht. Und dann geschieht alles wie von selbst: Unser Wald öffnet
seine unzähligen Augen und macht sich auf den Weg durch die Jahreszeiten
– das sind die immer wiederkehrenden Wachstumsphasen seines Lebens.
Es sieht so aus, als dürfe man ihn im ersten grün schimmernden
Schleiergewand gar nicht anrühren, so zart wirkt er um diese Zeit.
Aber das täuscht. Seine ihm innewohnenden Kräfte warten nur
auf den Morgen, an dem er überall Blütenlichter anzünden
will. In den schönsten Farben – mit stolzen Dolden, kleinen
Federbüscheln, Trauben und Kränzchen schmückt er sich
von Kopf bis Fuß: Unser Wald sieht aus, als wolle er tanzen gehen.
Der kurzen Periode überschäumender Freude folgt die Zeit der
Arbeit an sich selbst und der Pflichten für andere. Wer kann schon
ermessen, was es heißt, nach einem verborgenen Vorbild zu wachsen?
Millionen Blätter formt ein Baum nach dem für ihn gültigen
Muster. Dem inneren Trieb vertrauend balanciert er seine Äste und
flechtet seine Zweige himmelwärts, auf daß das Ganze auch
diesmal wieder ein einmaliges Kunstwerk wird. Emsig schürft er
humusspendenden Grund und dürstet nach jedem Tropfen Wasser, den
ihm der Himmel schenkt.
So ein kleiner Wald muß doch ein liebevolles Herz haben. In seinen
Schlupfwinkeln bietet er unzähligen hungrigen Mäulern Wohnung
an und sorgt, daß alle zu futtern haben. Geduldig trägt er
die Nester seiner Vogelgemeinden, damit der Nachwuchs ja nicht zu Schaden
kommt. Er streckt seine Arme nach überall hin – so kann viel
Volk auf ihm sitzen und trillern und fröhlich herumspazieren. Und
die von auswärts anreisen, sind ebenso willkommen. Wenn einer lieber
parterre wohnt, kann er auch in den Moosschuhen eines alten Baumriesen
unterkriechen; da schläft es sich besonders gut, wenn‘s winterlich
wird.
In den letzten Wochen seines immer wiederkehrenden Lebens verschenkt
der kleine Wald alles, was er in seinen Taschen hat. Aus Leibeskräften
rüttelt er an seinem Gewand, bis der ganze Reichtum zu Boden prasselt.
Nur noch zuzugreifen brauchen alle – die Tiere und die Kinder.
Wer in diesen Tagen in unserem Wald spazierengeht, merkt ihm seine tiefe
Freude und Dankbarkeit an. Noch einmal hat er sich bunt geschmückt,
sozusagen als Abschiedsgruß für uns alle. Denn abends kommen
schon die kalten Nebel und senken sich in die Kronen seiner Bäume.
Unser Wald beginnt ein wenig zu frieren. Er sieht so aus, als wolle
er seine Augen bald wieder schließen und friedlich zur Ruhe gehen.
Für dieses Mal.
Doch er fürchtet sich nicht vor dem Sterben. Bevor die große,
über allem waltende Kraft die Säfte seiner Bäume nach
innen zieht, hat sie das Wunder vollbracht: Unzählige Ansätze
sorgfältig verschlossener Knospen übersäen das kahle
Geäst und lassen uns wissen, daß eines Tages alles Leben
wiederkehrt.
Der Winter deckt alles zu. Er bringt alles zum Stillstand, wenn sein
frostiger Atem unseren kleinen Wald berührt. Doch innen vollzieht
sich die Wandlung – unsichtbar wirkt die Zeit. Bis zu dem Tag,
an dem die Sonne es will, daß neues Leben ersteht und neues Wachsen
und Werden geschehen läßt.
Signatur
der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig: 2015 A 55467
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